Was zählt vor den Menschen und was zählt vor Gott?

Heute sitzen wir zwischen den Stühlen oder um es poetisch zu sagen: „Zwei Seelen wohnen ach in meiner Brust.“

Soll ich mich jetzt als Pharisäer sehen, oder als Zöllner? Wer unter uns ist Pharisäer, wer Zöllner? Vielleicht ertappt Ihr Euch ja auch gerade dabei, andere in das jeweilige Lager zuzuordnen? Das fällt leichter und geht schneller und treffsicherer, als eine Selbsteinschätzung. Aber bevor wir uns gegenseitig in polarisierende Schubladen stecken, will ich uns den Wind aus den Segeln nehmen. Ich bin davon überzeugt, wir alle tragen beide in uns, den Pharisäer und den Zöllner! Einmal gewinnt der eine die Oberhand und ein anderes Mal der andere.

Ich möchte an einigen Lebenswirklichkeiten aufzeigen, wie es sich auswirkt, wenn der eine oder andere in uns die Oberhand bekommt:

Was zählt vor den Menschen und was zählt vor Gott?

Da malt uns Jesus zwei ganz unterschiedliche Menschen vor Augen. So unterschiedlich, wie sie unterschiedlicher seinerzeit nicht hätten sein können.

Der eine hat eine ganze Menge vorzuweisen. Und bitte schätzen wir das nicht gering! Der Mensch tut mehr, als er tun müsste, und was er tut, ist großartig. Natürlich blicken viele zu ihm und seinesgleichen auf, und warum auch nicht. Sicher tat das auch der andere, der zur gleichen Zeit den Tempel aufsucht, um zu beten.


Der hatte ganz anderes vorzuweisen. Mit Sicherheit hat er nicht zwei Tage in der Woche gefastet. Er hat sicher auch nicht zehn Prozent seines Einkommens den Armen zur Verfügung gestellt. Vielleicht waren aber wenigstens zehn Prozent seines Einkommens ehrlich verdient. Vorsicht also mit vorschnellen Urteilen oder Sympathien mit dem Zöllner! Warum aber stellt Jesus ausgerechnet diesen Strauchdieb als Vorbild hin, während der Ehrliche am Pranger Jesu steht? Ist es nicht ehrenwert, dass da einer regelmäßig den Gottesdienst besucht? Und nicht nur besucht, sondern auch geistlich prägt? Dazu ebenso regelmäßig das Bibelgespräch durch seine Beiträge bereichert, einen Arbeitskreis leitet, in seiner Umgebung missionarisch lebt, sich in der Gemeindeleitung vielleicht als Pfarrgemeinderat engagiert , ganz viel von seiner Freizeit der Pfarrgemeinde gibt und noch dazu regelmäßig seinen Kirchenbeitrag bezahlt? Ist Gott der Andere lieber, der fast unbemerkt hin und wieder in der Kirche auftaucht, um sein Gewissen zu beruhigen, der zu allem fähig, aber für nichts zu haben ist? Natürlich freut Gott sich über Menschen, die ihr Leben für ihn einsetzen, die nicht nur beten „Dein Reich komme!“, sondern die auch Gottes Reich in dieser Welt leben. Aber alles ist eine Frage der Bewertung. Und Gott wertet regelmäßig unsere Werte um.

Wir leben in einer Leistungsgesellschaft. Und da werden wir reduziert – oder reduzieren uns selbst – auf das, was wir leisten. Und je mehr einer leistet, umso anerkannter und wertvoller vor allem für den Arbeitsmarkt ist er. Wer nichts leistet, ist auch nichts wert. Und diese Wertmaßstäbe setzen sich auch in unserer Kirche durch. Nicht so bei Gott! Zwar anerkennt Gott, schätzt und lohnt sogar die Leistung, dafür gibt es etliche Beispiele in der Bibel, aber Gott schaut hinter das Monumentalwerk unserer guten Taten. Er misst uns nicht an unserer Leistung, sondern an unserer Gesinnung, die hinter jeder Leistung steht.

Was Jesus an dem Pharisäer in uns kritisiert sind nicht die lobenswerten Taten, sondern das Vertrauen auf sich selbst, die irrige Meinung, meine Leistung mache mich vor Gott angenehm und liebenswert. Gott hat uns schon geliebt, bevor wir auf die Idee kamen, irgendetwas tun zu müssen, um geliebt zu werden. Es gehört zum Wesen der Liebe, das sie ohne Bedingung liebt. Und Gott ist Liebe! Wer seine Leistung vor Gott aufrechnen will, der stellt sich mit Gott auf eine Stufe. Der spielt Verhandlungspartner in einem (hoffentlich) guten Geschäft. Und das ist Selbsterhöhung, die Jesus hier anprangert. Die einzig angemessene Haltung Gott gegenüber ist die des Zöllners. Was ihm Rechtfertigung verschafft, ist das, was Jesus hier „Selbsterniedrigung“ nennt. Dahinter steckt dasselbe griechische Wort, das an anderen Stellen mit Demut übersetzt wird. Selbsterniedrigung oder Demut heißt nicht, mich schlechter hinzustellen als ich bin, sondern vielmehr, mich unter Gott zu stellen. Nichts anderes tut der Zöllner in unserem Gleichnis. Er stellt sich unter das Urteil Gottes, bekennt sich als Sünder, als Übeltäter, der nichts vorzuweisen hat, was ihn vor Gott gefällig machen könnte. Er unterstellt sich Gottes Urteil und Gottes Gnade. Vielleicht merken wir bereits, dass wir beide, den Pharisäer und den Zöllner in uns tragen. Im Grunde wissen wir doch ganz genau, dass wir uns Gottes Liebe nicht verdienen können. Und doch fallen wir immer wieder auf die Leistungsfalle herein.

Wie befreiend die Botschaft, dass der gerechtfertigt vom Tempel nach Hause geht, der sich unter Gott und seine unverdiente Gnade stellt.

Das Zweite, was passiert, wenn der Pharisäer in uns Überhand gewinnt, ist

ein unseliges Vergleichen.


Wer unter Leistungsdruck steht muss sich ständig vergleichen. Die Leistungsgesellschaft lebt vom Vergleich und vom Wettbewerb. Wenn meine Leistung darüber entscheidet, ob ich gut bin, liebenswert, anerkannt und begehrt, dann muss ich besser sein und gegen andere antreten. Dann wird jede und jeder zum Konkurrenten. Ganz typisch deshalb auch das Verhalten des Pharisäers indem er betet: „Gott, ich danke dir, dass ich nicht bin wie die übrigen der Menschen….“

Wer sich über seine Leistung definiert, verliert einen realistischen Blick für sich selbst und für seine Mitmenschen. Wer sich über seine Leistung definiert, muss sich, anderen und Gott beweisen, dass er besser ist, als die Konkurrenz. Dieser Vergleich ist zerstörerisch. . Wie ginge es dem Zöllner, wenn er sich ebenfalls auf einen Vergleich eingelassen hätte? Entweder hätte er angesichts des Pharisäers resigniert oder er hätte versucht die Schwachstellen des Pharisäers zu finden und anzuprangern. Merken wir, das Vergleichen ist tödlich, beziehungstötend.

Der Zöllner versucht den Vergleich gar nicht erst. Er kommt so, wie er ist, zu Gott. Bei Gott müssen wir uns nicht messen, weil Gott in seiner Liebe keine Unterschiede macht.

Ein weiteres Phänomen dieser heutigen Bibelstelle ist das Beten.

Gebet ohne Beziehung

Da beten zwei Menschen zur gleichen Zeit im gleichen Tempel zum gleichen Gott, aber zwischen ihnen passiert nichts! Gibt es so was auch unter uns? Das Gebet des Pharisäers gibt uns Aufschluss darüber, wo es klemmt. Zunächst heißt es im Gleichnistext: „Der Pharisäer stand und betete bei sich selbst so: “ Dieses „bei sich selbst“ wird in den Bibelübersetzungen entweder als leise beten verstanden, oder als für sich allein stehend. Aber drückt dieses „bei sich selbst“ beten nicht noch viel mehr aus? Nämlich, dass er auch beim Beten nur bei sich selbst bleibt? Das äußert sich doch auch in seinem Gebetsinhalt. Zwar dankt er zunächst Gott, aber wofür: „ dass ich nicht bin wie ...“; ich fasste, ich gebe, ich, ich, ich. Das ist natürlich konsequent für einen Lebensstil, der ständig nur die eigene Leistung bespiegelt und vergleicht. Selbst beim Gebet, beim Gespräch mit dem lebendigen Gott, bleibt er nur bei sich selbst stehen. Wie viel in unseren Gebeten dreht sich um uns selbst? Was ich bin, ich gern wäre, ich gern hätte, ... ich, ich, ich ...! Der Schritt zum „Du“ ist aus unserem Blickfeld, aus unserem Denken verschwunden. Aber Gebet ist doch Hinwendung zu Gott. „Geheiligt werde dein Name. Dein Reich komme. Dein Wille geschehe ...“ Gibt es in unserem Leben ein Zöllnergebet, dass sich einfach Gott hingibt? Das nichts vorweist, nichts beweist, sondern einfach betet: „Gott, sei mir, dem Sünder, gnädig!“ „Hier bin ich, Herr, mache Du etwas aus meinem Leben zu Deiner Ehre!“ Lasst uns doch wieder beten lernen. Von uns wegkommen zu Gott hin. Das braucht Zeit, viel Zeit, stille Zeit, so schnell kommen wir nicht von uns weg. Zu sehr prägt uns die Leistungs- und Wettbewerbsgesellschaft. Aber wenn es uns gelänge, dass solches Beten ein Lebensstil würde, dann werden wir wieder beziehungsfähig. Dann werden wir uns selbst im Spiegel der Liebe Gottes ganz neu entdecken. Entdecken, wer wir unabhängig von unserer Leistung sind. Das kann zunächst schmerzhaft sein, aber auch sehr schön, in jedem Fall aber ist es befreiend. Auch der Blick für andere, angefangen beim eigenen Ehepartner, würde sich verändern, weil wir den wahren Wert hinter der messbaren Leistung wiederentdecken würden. Ich wünsche uns, dass solch hingebendes und damit verbindendes Beten bei uns Einzug hält und unser Leben prägt. Das ist der Schlüssel zur Demut vor Gott und voreinander.

Amen.